Jahrgang 1972
Übersicht:
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- Abitur im Rückspiegel
Abitur
50 Jahre später
Das Abitur am Reismann 1972 im Rückspiegel des Jahres 2022
Es war (natürlich) viel besser und ganz anders als heute!
Der Abiturjahrgang 1972 hatte keine große Abiturfeier so wie es sie heute gibt. Niemand kam auf den Gedanken, teure Klamotten zu kaufen und eine schicke Location zu mieten. Die Übergabe der Zeugnisse wurde auf das geringste Maß in der linken hinteren Ecke der Aula reduziert (morgens um 11). Gab es eine Rede? Kann sich keiner erinnern.
Ein Programm? Auf keinen Fall. Wir wollten nur noch da raus.
Dennoch war das Abi auch für uns eine große Sache. Wir hatten viel durchgemacht und viele Mitschüler unterwegs „verloren“.
- Die Kurzschuljahre hatten ihren Zoll verlangt.
- Die Klassen waren in der Mittelstufe mehrfach durcheinandergewirbelt worden.
- Die drei bis vier Jahrgänge vor uns hatten das Bildungswesen von den „Talaren der tausend Jahre“ befreit. Inzwischen trugen zwei bis drei (!) unserer mutigsten Lehrer unter der Anzugjacke keinen Schlips, sondern den weißen Rollkragenpulli, der sie als Fortschrittler und vielleicht sogar als SPD-Wähler verriet.
- War nicht erst kurz zuvor ein aus dem Ruhestand geholter 70-jähriger Mathematiklehrer auf das geballte Unverständnis einer ganzen Klasse gestoßen, worauf er beim Verlassen des Klassenraums die Tür so feste zu warf, dass ein großes Stück Putz von der Wand fiel – nicht, dass dies den Raum wesentlich hässlicher gemacht hätte – es passte zu den fehlenden Kacheln an den Wänden.
- War nicht der Chemieunterricht (oder war es Physik? oder beides?) für viele eine lange Kette von Angstzuständen gewesen, bei denen irgendein Unglücklicher (z.B. jemand, der sich gerade bewegt hatte) mit den Worten „Komm nach vorne und erzähle!“ an die Tafel zitiert wurde?
- Apropos Angst: Auch Schulleiter Dr. Hemmen kam ein halbes Jahr vor dem Abitur in eine Klasse – wir waren der vorletzte Jahrgang vor der Einführung des Kurssystems -, um uns angesichts unserer Vornoten mit dem motivierenden Satz „Ich habe Angst um Sie!“ zu vermehrter Anstrengung zu bewegen – Große Heiterkeit.
- Übrigens: Die mündlichen Prüfungen wurden im Lehrerzimmer in Anwesenheit des ganzen Kollegiums durchgeführt.
Wir befanden uns am auslaufenden Ende der 68er Jahre, das Wirtschaftswunder wogte, erst nach uns kam die Energiekrise. Also waren wir lässig, die Bilder zeigen es deutlich, vielleicht noch ein wenig lässiger als wir in Wirklichkeit waren? Wir konnten es uns leisten.
Die Unis warteten auf uns. Noten waren zweitrangig.
Jedenfalls: Eine festliche Abifeier mit teuren Klamotten kam damals nicht in Frage. Der Zeitgeist war dagegen. Die Filme über American High Schools fanden wir befremdlich.
Aber: Wir hatten als erste Schüler unserer Schule den damals neuen Fosbury Flop beim Hochsprung eingesetzt, ohne Anleitung durch die Sportlehrer, die den gar nicht kannten, was dazu führte, dass wir Höhen erreichten, die damals im Schulsport undenkbar waren, was wiederum dazu führte, dass unsere Sportnoten einen Boost erfuhren, der Herrn Dr. Hemmen und das Kollegium verwundert haben muss. (später Dank an Herrn Baucks, der uns trotz seiner Sicherheitsbedenken gewähren ließ.
Wir hatten Musik! In der Mittelstufe hatten Andreas Steiner und ich sogar je eine klasseneigene Hitparade an der Tafel – jede Woche! Herr Schäfer leitete eine kleine Jazzband, man lernte dort andere junge Musiker kennen. Er hauchte uns Hardrockern Swing und Dixie ein! Die andere Hälfte der Bigband kam vom Spielmannszug Hövelhof – das war auch nicht besser! Es hat riesigen Spaß gemacht.
Wir hatten als einziger Jahrgang zum Abitur einen Umzug durch die Stadt mit einem gelben Wagen der Paderborner Brauerei, auf dem wir mit Klavier (R.H), Posaune (J.H.), Trompete (P.W.) und Schlagzeug (U.B.), begleitet von allerley (sic) Perkussion, ein grausiges Kultur-programm zum Besten gaben, insbesondere auf den Schulhöfen der Gymnasien.
Daran erinnern sich alle noch mit Schaudern.
Nach dem Abi gab es in der Aula ein Glas Sekt im Stehen, wir bekamen unsere Zeugnisse in die Hand, das war´s. Wir gingen heim.
Nein, das war´s überhaupt nicht. Unsere Abifeier war eine vierwöchige Kette von privaten Feiern, sehr zur Sorge mancher (meiner) Eltern. Insbesondere Lichtenau wurde zu einem Festivitäten-Hotspot. Ein anderer Hotspot war das Hotel Krawinkel, insbesondere nach Mitternacht.
Das anschließende Brötchenausfahren ging wie im Rausch von der Hand.
Danach trieb der Wind uns alle auseinander,
Such wind as scatters young men through the world (and women)
To seek their fortunes farther than at home,
Where small experience grows.
(W. Shakespeare, The Taming of the Shrew (I, 2)
Wenn wir uns wieder sehen, wie zuletzt am Freitag, dem 13., ist es immer wieder spannend zu sehen, wie sich alle verändert haben und im Wesen genau dieselben geblieben sind. Schade, dass wir manche aus dem Blick verloren haben. Vielleicht kommen sie ja mal auf diese Webseite und melden sich dann bei einem von uns.
Schade auch, dass manche nicht mehr dabei sein können.
Robert Hingler 2022